Fremde im Kopf

Beijing. Frühling 2008. Es ist drückend heiss. Der Smog liegt wie Nebel über der Stadt. Nirgends sieht man blauen Himmel. Ich habe den Himmel seit drei Monaten nicht mehr gesehen. Ich befinde mich auf dem Tiananmen Platz im Zentrum der Stadt. Rund um mich herum sind viele Leute. Hauptsächlich Touristen. Es ist Anfang Mai. Da haben alle Chinesen eine Woche Ferien. Und ausgerechnet jetzt bin ich in der Stadt unterwegs.

Ich bin mit dem Rad da. Schiebe das Rad vorsichtig durch die Menschenmenge. Überall stehen uniformierte Polizisten, die wahllos Leute kontrollieren. Und plötzlich höre ich sie, die Stimme: „Muriel, Muriel“, ruft sie meinen Namen. Ganz laut und klar. Ich sehe mich um. Doch da ist niemand, der zu mir spricht. Nur chinesische Touristen. Ich ignoriere die Stimme und gehe weiter. Dann sehe ich einen Polizisten, der mir zuwinkt. Und wieder höre ich die Stimme: „Sie verfolgen dich“. Ich erschrecke. Sehe mich wieder um. Noch immer bin ich allein. Ich zeige meine Papiere. Der Polizist ist zufrieden und lässt mich weitergehen.

Etwas verstört fahre ich mit dem Rad zurück nach Hause, denke aber nicht weiter über die Stimme nach. Denke, ich habe mir das nur eingebildet. Daheim angekommen mache ich mir einen Grüntee und entspanne mich vor dem Fernseher. Es würden nun ein paar Tage vergehen, bis ich die Stimme wieder höre.

Das nächste Mal höre ich die Stimme im Büro. Ich sitze vor dem Computer und programmiere eine Web-Applikation für einen Grosskunden. Ich bin nicht so fit an jenem Tag, habe ich doch ein paar Nächte wegen der Arbeit nicht geschlafen. Plötzlich ist die Stimme wieder da: „Deine Emails werden kontrolliert“. Wieder schaue ich mich um. Niemand da. Ich überlege, wer meine Emails wohl kontrollieren könnte und bin mir nicht sicher, was los ist. Ich versuche, mit der Stimme zu reden, aber sie antwortet mir nicht.

Wieder schaffe ich es, die Stimme als Nichtigkeit abzutun. Vielleicht habe ich mir das ja nur eingebildet. Wer würde mich denn schon verfolgen und kontrollieren wollen? Doch das Unbehagen bleibt: Vielleicht ist ja doch jemand hinter mir her? Die Stimme verschwindet nicht, sie kommt immer wieder. Manchmal ruft sie nur meinen Namen, manchmal erzählt sie mehr. Sie eröffnet mir, dass der Chinesische Geheimdienst hinter mir her ist.

Am Anfang höre ich sie nur sporadisch und es gelingt mir, mich von ihr zu distanzieren, aber mit der Zeit wird sie immer aufdringlicher und spricht täglich zu mir. Ich kann mich nicht mit ihr unterhalten, sie antwortet nicht auf meine Fragen, sie spricht einfach von der Gefahr. Ich verzweifle und kriege immer mehr Angst. Ich fange an zu glauben, dass ich verfolgt werde und versuche, mich vor den Verfolgern zu schützen. Ich laufe nur noch mit Kapuze herum, damit man mich auf Kameras nicht erkennt. Ich benutze keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr, bin nur noch mit dem Rad unterwegs. Ich verbinde meinen privaten Computer nicht mehr mit dem Internet. Ich verbringe meine ganze Zeit nur noch daheim in der abgedunkelten Wohnung. Ich habe Angst vor den chinesischen Kommunisten, die mich verfolgen. Das ist meine erste Erfahrung mit Benji, einer Stimme, die mich bis heute begleitet.

Aus Angst vor den Kommunisten, fliehe ich nach Thailand. Es stellt sich jedoch heraus, dass die Kommunisten auch da aktiv sind. Ich sehe keinen Ausweg, die Angst steigt ins Unermessliche. In meiner Verzweiflung mache ich einen Suizidversuch. Ich überlebe und lande im Krankenhaus auf der Intensivstation. Als es mir besser geht, werde ich in eine psychiatrische Klinik überwiesen.

Ich lande im Isolierzimmer, erhalte eine Spritze in meinen Arsch. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind eine Mischung von psychotischen Wahrnehmungen und traumatischem Erleben. Ich glaube, ich bin in der Hölle, wortwörtlich. Nachts kommen die Dämonen und vergewaltigen mich. Sie sind zu dritt, zu viert, sie zwingen mich zu sexuellen Handlungen. Ich werde bestraft, weil ich ein schlechter Mensch bin.

Ich war drei Monate isoliert und durfte niemanden anrufen. Als nach drei Monaten ein anderer Arzt kommt, erlaubt er mir, meine Eltern zu kontaktieren. Daraufhin rettet mich mein Vater aus der Hölle und holt mich zurück in die Schweiz. Da ich danach schwanger bin, weiss ich, dass die Vergewaltigungen keine Einbildung waren, jedenfalls nicht nur. Ich will kein Kind von einem Vergewaltiger, deshalb treibe ich ab.

In der Zeit im Iso in Thailand kommt eine weitere Stimme dazu. Sie nennt sich Lou. Lou sagt: “Es ist besser, du bringst dich um” Er hat recht, natürlich ist es besser tot zu sein, als diesen Zustand zu ertragen. Aber wie soll man sich im Isolierzimmer umbringen? Für Lou ist der Tod die Lösung für jedes Problem. Auch heute noch, sagt er, ich soll mich umbringen, wenn ich aus irgendeinem Grund an meine Grenzen komme. Manchmal droht er auch, er werde jemand anderen umbringen, wenn etwas nicht so läuft, wie er es gern hätte. Als mein Vater an Leukämie erkrankt ist zum Beispiel, hat er immer gedroht, mein Vater würde sterben und es sei meine Schuld.

Heute höre ich insgesamt vier Stimmen. Zusätzlich zu Benji und Lou sind da noch Anil und Chanita. Anil vergleicht mich ständig mit anderen und sagt, dass ich dumm bin, dass die anderen viel besser aussehen als ich, dass ich die Dinge, die ich mir vornehme eh nicht schaffen werde. Chanita hat Angst vor Leuten und sagt mir, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Je nachdem wer hinter oder vor mir geht, muss ich dann manchmal die Strassenseite wechseln, weil Chanita Angst kriegt. Oder ich darf mit gewissen Personen nicht reden, weil sie nicht “vertrauenswürdig” sind. Trotzdem ist Chanita meine Lieblingsstimme, weil ich ein bisschen wie eine Mutterrolle für sie einnehme und auf sie aufpassen muss.

Inzwischen kann ich mit den Stimmen auch reden, was am Anfang nicht möglich war. Ich kommuniziere mit ihnen über meine Gedanken und sie antworten. In der Therapie spricht auch meine Psychologin direkt mit den Stimmen. Ziel ist es, die Bedürfnisse der Stimmen zu erkennen und herauszufinden, wie ich einen besseren Umgang mit den Stimmen finden kann.

Verfasst von Muriel